Das Jahr der Wellen
Ein persönlicher Rückblick auf das „Konzert-Jahr“ 2020
von Tobias Kassung, freier Musiker und Künstlerischer Leiter der Kammerkonzerte im Kunstverein
Angefangen hat mein „Konzert-Jahr 2020“ richtig gut. Vor allem mit viel besseren Aussichten als ein Jahr zuvor, denn das Auf und Ab ist ein ständiger Begleiter der freien Künstler. In Jahren wo wir besonders kreativ arbeiten, uns daher mehr zurückziehen müssen, sind naturgemäß Auftritte weniger. Doch danach haben wir viel neues Material, gehen damit an die Öffentlichkeit und eine Welle von neuen Konzerten kann starten. 2019 war für mich so ein „Vorbereitungs-Jahr“. Nein, eigentlich schon 2018. Denn in diesem Jahr entschlossen meine langjährigen Freunde und Kollegen aus dem Kölner Klassik Ensemble – unserem Kollektiv für Kammermusik, das schon seit über 15 Jahren aktiv ist – einen Trägerverein zu gründen und den Aufbau einer neuen Kammermusikreihe in Köln zu planen. Es folgten zwei Jahre mit intensiver Aufbauarbeit, Gesprächen und Initiativen – und schließlich einem glücklichen Moment, der unser Kölner Klassik Ensemble mit dem Kölnischen Kunstverein und seinem wundervollen Riphahn-Saal zusammenbrachte. Wir hatten unser „Zuhause“ für die Kammerkonzerte gefunden und das Programm stand auch: hochkarätige Spitzenensembles der freien Kölner Musikszene sollten sich hier sechsmal im Jahr präsentieren. Auch mit Förderungen durch die öffentliche Hand konnten wir rechnen, das war fantastisch, denn ohne diese, wäre der Aufbau unserer neuen Reihe unmöglich geworden.
Dann also, am 25. Januar 2020 unser großes Eröffnungskonzert in Riphahn-Saal. Vier Besetzungen des Kölner Klassik Ensembles waren beteiligt: das Astor Trio, das Arisva Streichquartett, das Duo Kravets-Kassung und das Cello-Duo Kravets & Shkodrani. Über 140 Gäste kamen und spendeten begeistert Applaus. Besser hätte diese Prämiere nicht laufen können, und Corona war noch (gedacht) weit weg in China…
Allerdings kamen wir so langsam ziemlich nah an Corona heran. Anfang Februar spielte ich mit meinem Duo Cello & Gitarre (zusammen mit meiner Frau Lena Kravets) in Heinsberg. Für uns ein unbekanntes Städtchen in Richtung Mönchengladbach. Ein paar Wochen später kannte jeder in Deutschland den Namen dieser Stadt. Mit meinem Astor Trio folgte noch der letzte Auftritt Mitte Februar in Bonn. Dann war Schluss. Meine Frau spielte Anfang März als allerletztes eine CD mit dem Kölner Kammerorchester und zwei Chören ein. Bestimmt wird diese Aufnahme legendär: knapper ging‘s nicht mehr. Eine so große Besetzungen, mit Chor! Im Moment unvorstellbar – aber wie verrückt klingt das!
Ja und dann kam die Corona-Welle auch über Deutschland. Mit dem ersten Lockdown und allem was wir nun kennengelernt haben. Der wirkliche Schock darüber setzte bei mir allerdings erst ein, als im April dann auch die Absagen für Konzerte im Mai und Juni kamen. Und es klar war, dass wir unsere gerade begonnene, eigene Konzertreihe im Kunstverein wie geplant sicher nicht mehr auf die Bühne bringen konnten. Sollten zwei Jahre Vorbereitung sich mit einem Mal in Luft auflösen?
Doch das Auf- und Ab bin ich ja gewohnt – so zumindest hoffte ich – und versuchte, die Zeit kreativ zu nutzen. Endlich wieder in Ruhe unser Repertoire erweitern und verstärkt selbst komponieren. So entstand tatsächlich ein neues Stück von mir für das Duo Cello & Gitarre, das Capricho à la lumier du sud.
Neben der Corona-Welle, kamen dann zum Glück auch die „Hilfe-Wellen“. Hilfsprogramme von Land und Bund. Aber nach erster Erleichterung, kam die große Ernüchterung. Ein schnelles Hilfsprogramm vom Land war so gering im Budget berechnet, dass die wenigsten Musiker*innen hier eine Kompensation für ausgefallene Gagen erhalten konnten – ich inklusive. Die Hoffnung ruhte also auf der berühmten Soforthilfe des Bundes. Und tatsächlich: unfassbar schnell landeten auf meinem Konto 9.000 Euro Soforthilfe. Sollte das wahr sein? Ich konnte es kaum glauben aber leider sollten meine Zweifel recht behalten. Verwenden durften wir von dieser Soforthilfe nur Geld für unsere „laufenden Betriebskosten“ – etwas, das in der Welt der Musiker nicht wirklich existiert. Wir haben weder ein Büro, noch einen geleasten Firmen-SUV den man jetzt hätte bequem abrechnen können. Was wir dagegen hatten, waren ein kompletter Wegfall aller Einnahmen und keine Aussicht auf Kompensation! Ich spreche hier immer von „wir“, denn meine Frau Lena Kravets ist als freischaffende Cellistin in der gleichen Situation wie ich. Eben Musikerfamilie und damit Familienschicksal. Gleichzeitig mit vielen unserer Kollegen und Freunden saßen wir alle im selben Boot.
Aber jetzt gab es eine unglaubliche, deutschlandweite Mobilisierung der freien, selbständigen Musiker*innen. Auf allen Ebenen, in Verbänden, Initiativen und der Politik wurde aufgeklärt, Druck gemacht und tatsächlich auch an Lösungen gearbeitet. Und ich bin überzeugt, dass niemals zuvor die Künstler*innen so intensiv und eng zusammengehalten haben und auf ihre Belange so laut aufmerksam gemacht wurde.
Mir hat es gut getan, dass wir in Köln mit der Initiative Freie Musik (IFM e.V.) eine so starke und gebündelte Vertretung der freien Musikszene haben, und dass ich hier als Sprecher der Initiative Klassik Klön (IKK) selbst aktiv war.
Und am Ende konnten tatsächlich – wenn auch kleine – Verbesserungen an der Soforthilfe erreicht werden. Vor allem aber war jetzt auch auf allen Ebenen der Politik klarer, mit welchen Mitteln der freien Kultur geholfen werden konnte. Die nachfolgenden Stipendien- und Hilfsprogramme waren deutlich besser an unsere Situation angepasst und halfen dann wirklich.
Trotzdem war dieser Frühsommer mit viel Sorgen verbunden. Wie geht es weiter?
Aber langsam kamen im Juni die ersten Öffnungen und vorsichtig fanden ein paar Konzerte statt. Musste unser Arisva-Quartett im Mai noch ohne Publikum ein Konzert-Video aufnehmen, gab es das erste live Konzert wieder am 5. Juli mit meinem Astor Trio in Schwerte. Dort wurde statt des normalen Konzertsaals eine große Halle gemietet und der Veranstalter sorgte dafür, dass das Publikum einzeln und sehr weit auseinander saß. Seltsam war dieses erste Konzert, aber auch sehr schön und intensiv. Die wenigen Zuhörer waren so dankbar und begeistert und wir genossen es, endlich wieder spielen zu können.
Nach den Sommerferien lief dann überall wieder ein vorsichtiger Konzertbetrieb mit Hygienekonzepten an. Zusammen mit meiner Frau hatten wir im September zwei der schönsten Konzerte überhaupt: In der Alten Synagoge in Wittlich und im Palais Wittgenstein in Düsseldorf spielten wir unser neues, im Corona-Lockdown eingeübtes Programm, und die stehenden Ovationen des Publikums sagten alles: es war für beide Seiten ein beglückender Konzertmoment.
Davor hatten wir eine live „Generalprobe“ mit einem unvergesslichen Sonntag-Vormittags Konzert unter einer riesigen Buche im Hof einer Bad-Godesberger Villa. Mit Vogelgezwitscher unter einem Blätterdach.
Und endlich konnte auch unsere eigene Konzertreihe im Kölnischen Kunstverein ihren „Restart“ feiern. Am 10. Oktober hatten wir das Linos Piano Trio in den Riphahn-Saal eingeladen. Die wenigen Plätze (ca. 60 von normal 170) waren ausverkauft. Das Publikum begeistert, die Künstler glücklich. Der enorme Aufwand und die riesige Extra-Arbeit mit Hygeniekonzpten, Abstandsregeln, festen Sitzplätzen und Kontakt-Rückverfolgung – es hatte sich doch gelohnt für diesen Moment.
Ja, und dann kam die zweite Corona-Welle. Erst langsam und dann immer stetiger. Die Einschränkungen nahmen wieder zu. Statt 60 Personen durften wir jetzt nur noch 40 Gäste in den Saal lassen. Das rechnete sich gar nicht mehr, aber wir wollten einfach durchhalten. Für das Publikum und für die Künstler. Wie wichtig ist es doch, gerade in solchen Krisen Kraft in der Musik zu finden. Und für die Musiker sind die Konzerte lebensnotwendig. Nicht nur finanziell! Ich versuche Außenstehenden das immer klar zu machen mit einem Beispiel aus dem Sport: stellen Sie sich doch einmal vor, ein Spitzensportler darf nur trainieren aber keine Wettkämpfe ausüben. Kann man so noch Spitzenleistungen erbringen? Wohl kaum. Ohne Ziel, ohne Vergleich, ohne Austausch und Teamgeist – unmöglich!
So geht es unseren Spitzenensembles. Seit ihrer frühesten Kindheit spielen wir unsere Instrumente, Musik ist unser Leben, es ist unser Ein und Alles und wir versuchen jedes Konzert auf‘s Neue absolute Spitzenleistung auf die Bühne zu bringen. Aber wenn diese Bühne fehlt, dann fällt alles in sich zusammen. Es ist ungeheuer schwer, die Spannung zu halten, motiviert zu bleiben und die Ensemble-Arbeit fortzusetzen.
Ich wollte im Herbst alles versuchen, um unseren eingeladenen Ensembles diese Möglichkeit des Konzerts zu erhalten. Und so schafften wir es tatsächlich noch am 31. Oktober – zwei Tage vor dem nächsten Lockdown – eines der denkwürdigsten Konzerte überhaupt auf die Bühne zu bringen: Aleksey Semenenko spielte zusammen mit Inna Firsova bei den Kammerkonzerten im Kunstverein ein einfach nur grandioses Konzert, das uns alle tief bewegt und beglückt nach Hause gehen ließ.
So ging es etwas leichter in den nächsten Lockdown. Man wusste ja auch schon was einen erwartet.Trotzdem, für mich war dieser Teil-Lockdown ab Anfang November nur schwer zu akzeptieren. Zu deutlich war von Anfang an, dass hier halbherzig agiert wurde. Wieso sollten alle Kultureinrichtungen mit so guten Hygienekonzepten und so kleinen Besucherzahlen in großen Sälen schließen, aber das Shopping dicht an dicht in der Kölner Innenstadt weiter möglich sein? Ich fühlte mich als Bauernopfer einer wenig erfolgversprechenden und gesellschaftlich unsolidarischen Teil-Schließung.
Für uns hieß dieser Lockdown, dass gerade jetzt in den Monaten mit den meisten Konzerten wieder alles komplett wegbrach.
Wie bei vielen anderen Kolleg*innen retteten mich finanziell zwei Dinge: einmal mein Unterrichtstag an der Musikschule und zum zweiten das Stipendienprogramm des Landes NRW. Bis Mitte Oktober konnte man sich hier um 7.000,- Euro für ein individuelles, künstlerisches Projekt bewerben. Nicht sehr viel über so viele Monate, aber so kamen meine Frau und ich dann doch über die Runden.
Und dann hatten wir ja noch unseren Träger- und Förderverein gegründet. Was ein Glück! Tatsächlich spendeten viele Konzertbesucher, treue Fans und sogar unsere Hausbank einiges, so dass wir jetzt mit dem Verein trotz Totalausfall der Einnahmen nicht komplett mittellos dastehen. Das ist enorm wichtig, denn die so groß angekündigte November- und Dezember-Hilfe greifen für unseren Verein nicht: ohne feste Angestellten haben wir keinen Anspruch auf diese Mittel. Oh – Deutschland, du Land der Angestellten!
Aber es bleibt trotz dieser Voll-Katastrophe doch auch einiges Positives in diesem Jahr:
Die wenigen Konzerte die stattfanden, werden mir immer als ganz besonders intensive im Gedächtnis bleiben.
Das neue Stück von mir – im ersten Lockdown komponiert – haben wir an Stelle eines live-Konzerts am 21. November im Riphahn-Saal als Video aufgenommen. Überhaupt sind viele fantastische Videoproduktionen entstanden. Diese Beschäftigung hielt mich über Wasser und gab mir weiterhin Motivation.
Die große Solidarität – endlich auch unter den Musiker*innen und Künstler*innen. Ihr gemeinsames Einstehen für ihre „Branche“.
Das wachsende, allgemeine Verständnis wie ungemein wichtig Kunst und Kultur für unser Leben ist, wie sie sinnstiftend und prägend für unsere Gesellschaft wirkt und welche Leistung täglich von den Musiker*innen erbracht wird.
Eine wirkliche Welle an Solidarität von privaten Hilfen und öffentlichen Förderungen um die Musik am Leben zu halten.
Und schließlich trotz aller Schwierigkeiten die Kammerkonzerte im Kunstverein als neue Reihe in Köln in diesem Jahr aufzubauen – das war ein großer Erfolg und gab unserem ganzen Kollektiv Halt und Motivation.
Am Ende sind es die vielen menschlichen und gesellschaftliches Entwicklungen die hoffentlich durch diese weltumspannende Krise angestoßen werden und die mich positiv stimmen. Hatten wir nicht alle vor Corona schon das mulmige Gefühl, dass die Welt in einer Art großer Fieberwelle ist? Dieses ewige Wachstum, Mehr & Mehr, Größer & Schneller, Gieriger & Rücksichtsloser – wie lange soll das gut gehen? Unsere Welt stößt an ihre Grenzen, wir zerstören unsere Natur und das gibt sie uns zu spüren. Kaum jemand, dem ich in diesen vorweihnachtlichen Lockdown-Tagen begegne und der mir nicht sagt, dass es doch auch sein Gutes hat: wieder zur Ruhe zu kommen, keinen Weihnachtsstress. Weniger Verkehr in Köln und mehr gute Luft. Kein Konsumzwang, denn die Geschäfte sind ja zu, kein Reisezwang denn die Hotels sind dicht.
– Ja, wir haben endlich mehr Zeit zum Nachdenken. Darüber wie wir die Zeit nach Corona gestalten wollen. Und wie wir dann mit Kunst und Kultur umgehen. Dass wir sie als existentiell für unsere Gesellschaft begreifen, als ein großes Gut, dass es zu schützen und zu pflegen gilt. Gerade die freien Musiker*innen brauchen mehr Sicherheit, dass Fördermittel nicht gekürzt werden, Projekte fortgeführt und neue entwickelt werden können. Ensembles brauchen Mittel für langfristiges Arbeiten und den Aufbau von nachhaltigen Strukturen und Konzertveranstalter müssen sicher sein, dass ihre Orte erhalten bleiben.
Als Komponist bin ich Skeptiker, als Bühnenmusiker aber Berufs-Optimist und an das ständige Auf und Ab der Wellen gewöhnt. Je tiefer das Ab, desto höher meist das Auf. Hoffen wir, dass es jetzt genauso kommt und packen wir kräftig an, eine gute Zukunft für die Musik aufzubauen – mit einer Welle neuer Kunst und Kultur!