2020 – Musikstadt Köln im Überlebens-Kampf
2020 – Musikstadt Köln im Überlebens-Kampf
von Olaf Weiden
Mit knapp zwanzig Konzertterminen im Januar 2020 begann das Jahr in gewohnter Dosierung. Der freie Musikjournalist zählt den Januar mit seinen starken Nachwehen des Dezember-Weihnachtsgeschäfts zum Kerngeschäft des Jahres, somit gleichermaßen Wonnemonat des Musikfreundes wie der Musikkritik für das heimische Feuilleton. Einzig das Divertissementchen mit den Männern und Herren des Kölner Männergesangvereins hisste zu diesem frühen Zeitpunkt deutlich die Fahne für das Motto des beginnenden Jahres: Eine kölsche Fidelio-Adaption widmete sich dem Geburtstagskind No. Uno, Ludwig van Beethoven, und verquickte sein Leben mit der rheinischen Kultband „Bläck Föös“. Beide Jubilare durften da noch lächeln, die Fans begeistert singen und schunkeln. Zwei Tage nach der Premiere erreichte Corona Europa. Nicht so viele Musikfreunde hatten Anfang Februar Lust, gemeinsam den Start ins Chinesische Neue Jahr der „Metall-Ratte“ zu begehen – auch nicht rein musikalisch. Das WDR Sinfonieorchester hatte den Dirigenten Tung-Chieh Chuang und den Geiger Ray Cheng eingeladen. Musikalisch geriet dies sehr beglückend und informativ, aber die – natürlich völlig sinnfreie – Vorstellung, chinesische Musiker bei ihrer Arbeit zu beobachten, vielleicht mit interessierten Landsleuten im Publikum, sorgte bereits für latentes Unbehagen. Die Virenphobie saß bereits in den Gehirnen.
Eigentlich bot die Pressekonferenz des Kölner Kammerorchesters am 13. März – Corona-Grüße mit Armen und Beinen und Abstandsregeln sorgten damals noch für heiteres Geplänkel - einen außergewöhnlich vielversprechenden Blick in die Zukunft. Mit großer Vorfreude hatten der Principal Conductor Christoph Poppen und sein Orchester am Programm der sonntäglichen Matinee gefeilt, die am folgenden Wochenende stattfinden sollte, da traf brandheiß die Nachricht vom kurzfristigen Aus für Kölns Konzertleben auch in der Kölner Philharmonie ein. Intendant Louwrens Langevoort schaute solidarisch zur Kondolenz vorbei; nur das bunt garnierte Brötchen-Arrangement besaß jetzt noch eine berechenbare Realität.
Am 1. Mai meldete sich das Festival „Acht Brücken. Musik für Köln“. Das Fest selbst war selbstverständlich mit seinen gewohnten Angeboten abgesagt, aber die Festival-Macher versuchten am traditionellen Publikumstag „Freihafen“ nach Angaben des Künstlerischen Leiters Louwrens Langevoort „zu retten, was zu retten ist!“ Im neuen „Live“-Format – eine Montage vorproduzierter Beiträge - entstand ein Online-Tag auf der Plattform WDR-Kulturambulanz, ein Strauß aus „Mai-Rosen“ (Langevoort). Hier durfte man unter professionellsten Bedingungen erleben, wie vertrocknet derart angereichte Rosen wirken können. Zahllos reihten in Folge verschiedenste Stream-Aktionen in allen möglichen bis aktuell unter den Weihnachtsbaum, berechtigte Rettungsanker, die kein Konzertleben fesseln können.
„Natürlich stellt die Zeit eine besondere Herausforderung dar“, erzählte mir Mitte Mai der aus Rumänien stammende Musiker Cristian Macelaru, Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters, „aber in meinem Fall auch eine wunderbare Zeit, die ich mit der Familie verbringen konnte, viel mehr Zeit als jemals in der Vergangenheit. Ich war die ganze Zeit daheim in Bonn, jeden Tag mit den Kindern.“ Viele Menschen erlebten diese Zeit nicht nur negativ, natürlich nur die abgesicherten Künstler. Der Dirigent probte in der Philharmonie mit 22 Streichern.
Geballter Sound eines Sinfonieorchesters entsteht aus der geballten Formation vieler Musiker, ein unerreichbares Ziel in Corona-Zeit. Viren-Profis bestimmten mit ihrem Abstands-Diktat auch die Positionen der Musiker auf dem Podium, und die – beschrieben von einem Musiker bezogen auf die Hörsituation – befanden sich definitiv „allein auf weiter Flur“. Die dabei entstehenden Komplikationen waren deutlich hörbar, besonders weil kein Huster störte – ich saß nämlich allein im philharmonischen Rund. Zwei Wochen später: „Welche Wonne, welche Lust, herrscht nunmehr in meiner Brust.“ So singt das Blondchen in Mozarts Entführung bei der Nachricht von der Befreiung. Dieser Ohrwurm sollte als Motto-Thema des deutschlandweit ersten öffentlichen Konzertes am 31.5. verstanden werden, das vom Gürzenich-Orchester und dem frisch verlängerten Generalmusikdirektor Francois-Xavier Roth in der Kölner Philharmonie ausgerichtet wurde – unter besonderen Bedingungen.
Ein bis zwei Personen saßen im Abstand von jeweils drei Sitzen zur Seite und jeweils einer kompletten Reihe vorn und hinten. Die Sitzplätze wurden vom reichlich vorhandenen Saalpersonal jedem Gast zugewiesen, auch das Verlassen des Saals wurde von Einweisern berührungsfrei und abstandsorientiert organisiert. Die gesamte Hörerschaft beschränkte sich auf die zulässige Höchstmarke „einhundert“. Das katapultiert den theoretischen Preis für eine Einzelkarte in astronomische Höhen, weshalb die Karten unter interessierten Bürgern ausgelost wurden – ein Luxus, den sich entsprechend nur restlos subventionierte Klangkörper leisten können.
Damit startete der Versuchsball „Hygiene-Konzepte für Konzerte in geschlossenen Räumen“. Einsame kleinformatige Veranstaltungen in Oper, Dom, WDR-Saal oder Philharmonie trieben die lustigsten Blüten, mal saß fast niemand im ausverkauften Saal, dann drängten sich die Zuhörer in Knubbeln – die Rückverfolgung war zeitweise wichtiger als die Ansteckungsgefahr. Das konnte nicht im Sinne des weiterhin vorwiegend betagten Klassikpublikums sein. Handtaschen aller Größe oder Motorradhelme mutierten zu angenehmen unkontrollierten Saalbegleitern, eine gottseidank ungenutzte Spielwiese für terroristische Anschläge.
Zunächst fiel die neue Programmierung auch der großen Orchester positiv auf. Kammermusik rückte ins Visier, selten gespielte Werke abseits des Routine-Repertoires, oft lohnende Pretiosen, darunter Jacques Iberts „Divertissement“ mit dem WDR SO. Resümee: Auch kleine Besetzungen können großen Lärm machen und für Stimmung sorgen. GMD Roth dirigierte auch mal reine Blechblasmusik, dafür verschanzte er sich hinter einer aerosol-sicheren Plexiglas-Konstruktion. Nach der Sommerpause versuchte das Festival „Felix“ mit Alter Musik in sakralen Gebäuden den Neustart. Aber hier war bereits ablesbar, dass dem angeblich nach Live-Musik hechelnden Publikum das Konzertleben suspekt wurde: Kein Ansturm. Interessiert warteten im beginnenden Oktober die Opernfreunde auf die neue Zauberflöte des Altmeisters Michael Hampe. Er setzte auf die Kraft des Stückes, lädiert durch die harten pandemischen Auflagen für Bühnenkünstler: Wer sich liebt, darf sich nur mit Abstand begegnen. Wenn die Hand der Gerechten die Prüflinge führte, drückte sie einen Abstandsmesser mit beleuchteter Plastikhand auf die Schulter der Delinquenten – mit Humor Problem gelöst. Steigende Infektionszahlen verschärften leider auch die Vorschriften fürs Publikum, der Mund-Nasenschutz blieb nun auch am Sitzplatz Pflicht.
Das galt auch für die philharmonischen Termine, nach zahlreichen Unmutsbezeugungen durch das Publikum wurde jetzt ein Schachbrettmuster getestet, großzügig vereinzelt saßen die Klassikfans. Selbst beim angesagten Teodor Currentzis blieb Kölns Philharmonie nur zweihundert Fans zugänglich, der griechische Klangmagier aus dem russischen Perm spielte sein Programm an diesem Tag gleich zweimal. Die Musiker ließen sich nicht bitten, improvisatorisch ihre musikalischen Botschaften zu vervielfältigen. Ende Oktober toppte das Gürzenich-Orchester mit ihrem Abo-Konzert in sechs Aufführungen an drei Tagen. Zum berühmtesten Adagio eines Solokonzerts trat dazu der Slowene Blaž Šparovec, seit fünf Jahren Solo-Klarinettist des Gürzenich- Orchesters, mit Mozarts Klarinettenkonzert in den Mittelpunkt. Sechsmal das Konzert der Konzerte fürs eigene Instrument, das wird der junge Mann noch seinen Enkeln erzählen. Ein weiteres Sonderkonzert eröffnete den November und beschloss ihn gleich wieder. „Gemeinsam sind wir stark!“ So lautete das Motto eines nun wieder letzten gemeinsamen und lautstarken Aufbäumens der städtischen Musikszene. Sogar Trillerpfeifen schrillten im philharmonischen Rund beim Benefizkonzert für die Freie Szene Köln: Der neuerliche Lockdown wildert erfahrungsgemäß nicht nur ökonomisch bei den freischaffenden Künstlern am schlimmsten.
Intendant Louwrens Langevoort hatte dieses einzigartige Treffen von gleich vier Orchestern in kürzester Zeit anberaumt. Angetreten waren die beiden Hausorchester WDR-Sinfonieorchester und Gürzenich-Orchester als institutionalisierte Groß-Ensembles der Stadt mit ihren Chefdirigenten, dazu Concerto Köln für die Szene der Alten Musik und eine kleine Abordnung des Ensembles Musikfabrik für die zeitgenössische Abteilung. Zum siebten Mal innerhalb einer Woche durfte nun der Soloklarinettist Blaž Šparovec mit seinem Gürzenich-Orchester Mozarts Klarinettenkonzert anstimmen, diesmal nur den langsamen Satz, jetzt mit seinem Chef François-Xavier Roth am Pult. Der nannte dieses einzigartige Orchestertreffen in seiner direkten ehrlichen Art einen „Doppelschrei: einmal für die vielen freien Musiker, zum anderen für die Kultur“. In Frankreich, so Roth, dürfen die Bürger Fleisch kaufen, aber kein Buch. Seiner Wut darüber machte er Luft im Schluss-Satz aus Beethovens Fünfter, ein komponierter Jubel zum nahenden Geburtstag, der auch den Spielern in dieser relativ festlich üppigen Besetzung gut tat. Und ebenso den Ohren des kleinen Live-Publikums, das solche fetzige Orchestermusik seit Monaten nicht mehr gehört hatte.
Das waren die letzten philharmonischen Töne vor Publikum in 2020. Die Musikstadt Köln machte zunächst ihrem Namen alle Ehre. Gerade die Freie Szene pulsierte, neue Spielstätten wurden erobert, sogar ein neuer Jazzclub öffnete. Besonders die kleinen Spielstätten blieben durch die nötigen Hygiene-Vorschriften chancenlos. Schade war es für manche junge Künstler. Ein Rising Star aus England, die Saxophonistin Jess Gillam, verzauberte im Duo ihre philharmonischen Gäste nur durch Musikalität und unbeschreibliche technische Souveränität – vor einer leider sehr kleinen Gemeinde. Hier wurde allerdings das Publikum zum Opfer, sie nicht erlebt zu haben. Die junge Dame lässt sich dadurch natürlich nicht stoppen. Sie ist in England längst ein Superstar und wird die Welt erobern.
„Vive la folie“ rief im letzten Philharmonie-Konzert an Silvester 2019 der junge britische Dirigent Duncan Ward dem Publikum in einer damals voll besetzten Philharmonie zu, „Es lebe der Wahnsinn“. Er selbst wand sich kurz darauf zur Bestätigung auf dem Parkett vor dem Orchester in Break-Dance-Figuren zu barocken Klängen von Jean-Philippe Rameau – das Jahr fing so mutig an. Es hätte nur ein anderer Wahnsinn werden dürfen.
Olaf Weiden ist freier Kulturjournalist in Köln und arbeitet unter anderem für die Kölnische Rundschau und das Kulturmagazin choices.